Augenblicke völliger Konzentration scheinen die Zeit stillstehen zu lassen. Die Ausstellung in der Artillerie in Köln spiegelt eine solche, seltene Konstellation. Vier Bilder, kaum 40x30 cm groß, vollführen das Kunststück, den Raum in eine konzentrierte Stimmung zu versetzen, vergleichbar mit der Situation während der Aufführung eines Musikstückes oder besser, eines Tanzes. Denn die Aktionsspuren auf den Bildern von Thomas Kemper (geb. 1957) haben viel mit der einstudierten Leichtigkeit eines tänzerischen Bewegungsablaufes gemein.
Aber wir haben es mit Malerei zu tun, und die Bewegung wird hier zur Zeichnung ‑ innerhalb eines kleinen, mehrfach untergliederten Farbfeldes, das von der viel größeren, makellos glatten Restfläche scharf abgegrenzt ist. Die Zeichnung ist keine aufgesetzte Zutat, sondern mit der Malerei verzahnt. Sie wird in die noch feuchte Ölfarbe eingeschrieben, so dass die widerstandsfähigere Farbe des Untergrundes (Alkyd) freigelegt wird. Das Ergebnis ist eine kürzelhafte Notation, dessen starkes energetisches Potential in krassem Gegensatz zur scheinbaren Unberührtheit der ruhigen Restfläche steht.
Die in einem (Atem-)Zug durchgeführte Zeichnung wird jeweils nur in Ausschnitten gezeigt; je nach Bildtauglichkeit werden Teile davon hervorgehoben oder auch ganz gelöscht. Dadurch wird die Zeichnung mehr oder weniger stark angeschnitten und mit der Fläche verspannt. Durch Lasuren kann sich auch der Farbwert der Zeichnung selbst verändern, so dass sie wie von einem halbtransparenten Schirm verborgen scheint.
Die einzelnen Felder fügen sich zu einem satten Farbklang mit kräftigen, aber fein abgestimmten Kontrasten zusammen. Trotz der Dynamik der Gegensätze kommt die Tafel als ganzes zur Ruhe. Sie schwebt - mit einem geringen Abstand - vor der Wand als in sich geschlossenes Bild mit einer so dichten, konzentrierten Spannung, wie sie sich nur bei einem relativ kleinen Format denken lässt.
Das Phänomen der neuen Arbeiten auf Plexiglas ist schwer zu fassen. Dazu trägt bei ein Moment der Zerstreuung, der Diffusion, des Auseinanderstiebens in alle Richtungen. Wohin soll der Blick sich zuerst wenden, wenn das anvisierte Artefactum aus vielen Einzelteilen besteht, die sich nicht einmal mehr auf eine Wand beschränken, sondern den gesamten Raum zum Bezugspunkt erklären? Man könnte die prinzipiell mehrteiligen Arbeiten - grundsätzlich bestehen sie aus mindestens einem linear und mehreren flächig behandelten Modulen - dem Bereich der Rauminstallation zuordnen. Aber Thomas Kempers Strategie unterscheidet sich von vielen anderen dadurch, dass trotz der räumlichen Expansion der Gesamtinstallation dem Einzelelement die größte Aufmerksamkeit gewidmet, ja seine Einzigartigkeit und Besonderheit geradezu beschworen wird. Weder handelt es sich um weitgehend industriell gefertigte „specific objects“ im Sinne der Minimal Art, noch werden alltägliche, flüchtige Materialien verwendet, noch geht es um eine Ausdehnung der Malerei im Sinne von planer Wandmalerei.
Die Exklusivität der einzelnen Module wirkt der Tendenz zur Auflösung entgegen. Im ersten Moment könnte man vielleicht glauben, dass diese Makellosigkeit nur durch eine technische, nicht manuelle Herstellung erreichbar sei. Die Spur zur Erkenntnis, dass es sich tatsächlich um reine Ölmalerei handelt, führt über die Gruppe der linear akzentuierten Tafeln. Hier bildet sich die einzelne Pinselbewegung als extrovertierte Lineatur ab. Selbst die Abfolge der Linien lässt sich über die unterschiedlichen Farben nachvollziehen. Während sich die davon sehr verschiedenen, introvertierten Farbfeld-Tafeln in Form und Größe, Farbton und -intensität, Helligkeit usf. unterscheiden, beschränkt sich die Zeichnung als kurzes Aufblitzen von Bewegung und Emotionalität auf ein einheitliches weißes Quadrat. Die kürzelhaften Notationen sind schon von ihrem Wesen her individuell, offen und nicht wiederholbar. Sie bringen die satten, fein modulierten Farbakkorde des Chorus mit dem vollen körperlichen Einsatz selbstbewusster Solisten zum Klingen.
Aber auch die Erfahrung von Zeit wird ganz unterschiedlich eingesetzt. Spiegelt sich in der Gruppe der linear geprägten Tafeln ein idealer Moment hoher Konzentration und ungeteilter Aufmerksamkeit, so beschreiben die Farbfeld-Tafeln im Gegensatz dazu ein sehr langes Zeitkontinuum, das durch Ausdauer und Beharrlichkeit gekennzeichnet ist. Jedes einzelne der auf den Grundkonstanten eines Quadrats von 10 x 10 cm, mit einem Abstand von 2 cm und einer Höhe von 3 cm aufgebauten Module ist ein veritables Schwergewicht an künstlerischer Präzision und handwerklicher Sensibilität. Die diaphane Schönheit des Plexiglasträgers in Verbindung mit der aus bis zu 40 Lasuren sorgfältig aufgebauten Ölmalerei rufen einen Eindruck von Unantastbarkeit hervor. Selten wirkt Malerei in diesem Grade kostbar und brillant. In ihrer schimmernden Glätte erinnert sie an Mittelalterliches, an die leuchtenden Grüns, Blaus und Rots der frühen Ölmalerei eines Rogier van der Weydens, Hans Memlings oder der Gebrüder Van Eyck. Auch deren vielbewunderte Akkuratesse ist bei Thomas Kemper zu finden, wenn sie sich auch nicht an zeichnerischen Details, an den sanften Übergängen einer Gewandfalte oder einem porzellanenen Inkarnat festmachen lässt.
Die demutsvolle Sorgfalt der Alten Meister ist in eine Kunst zurückgekehrt, die nur als hundertprozentig diesseitig bezeichnet werden kann. Denn es ist nicht der jenseitige Glanz des himmlischen Jerusalems, das die Szenerie beleuchtet, es ist das reale physikalische Licht, das Raumlicht, das der Betrachter im Moment der Betrachtung mit dem Gegenstand teilt. Ein Lichtwechsel, eine Intensivierung oder Eintrübung wirkt sich auf die Malerei unmittelbar aus. Die Lichtintensität überträgt sich auf den Malereikörper, der durch die Farbe und den Träger gleichermaßen bestimmt ist. Diese Malerei hängt von derselben lebensspendenden Energie des Lichtes ab wie die Wahrnehmung des Betrachters. Beides manifestiert sich im Hier und Jetzt. Deshalb taugen die Installationen von Thomas Kemper nicht zum statischen Bild. Sie sind immer anders - nicht nur, weil bei jeder Installation die einzelnen Module in neue Positionen gebracht werden, sondern vor allem, weil sie bei jedem Licht- oder Perspektivenwechsel neu gesehen werden. Für diese Malerei gilt der Grundsatz: Man betrachtet nicht zweimal dasselbe Bild.
Die visuelle Verklammerung der Einzelelemente zur Gruppe beruht auf einem der Installation zugrunde liegenden Koordinatensystem, das, und sei die Gruppe noch so umfangreich oder weit auseinander versprengt, alle ein- und demselben Raster paralleler Kantenlinien einordnet. Entlang dieser unsichtbaren Linien setzen die einzelnen Module präzise Akzentuierungen, deren Grundmaß nicht von ungefähr in etwa der Größe eines Handtellers entspricht. Sie ergreifen den Raum. Sie wachsen die Wände hinauf, breiten sich über große weiße Flächen aus, besetzen Raumecken oder Randzonen. Sie wirken wie Markierungen des gestaltenden, menschlichen Körpers, der sich im Raum bewegt und ihn sich dadurch aneignet.
In den Hallen für aktuelle Kunst in Oberhausen werden letzte Tabus gebrochen, wenn gelegentlich die schmalen Seitenkanten der Stellwände als Hängefläche genutzt werden, während die durch eben diese Stellwände gebildeten Kojen selbst leer bleiben. Überspitzt könnte man von einer raumgreifenden All-Over-Malerei sprechen im Sinne der gesprayten Malereioccupationen einer Katharina Grosse, nur dass sich die Abertausende winziger Spray-Tröpfchen in streng abgezirkelte Mini-Rechtecke verdichtet haben. Die Malerei wird letztendlich auch hier fragmentiert bis zur äußersten Grenze eines gerade noch zu erkennenden Zusammenhalts. Gleichzeitig gewinnt sie mit den räumlichen auch plastische Qualitäten; sie verbindet sich mit der Skulptur. Ihren wichtigsten Verbündeten aber findet sie im Licht, das der Malerei Leben einhaucht, sie mit Vitalität und diesseitiger Relevanz erfüllt.